Urplötzlich geht Sammy nicht mehr an den Siloballen am Waldrand vorbei. Askan hampelt so lange am Putzplatz herum, bis er eine Karotte zugesteckt bekommt. Und Samira scheint körperlich nicht in der Lage zu sein, um die Ecken in der Halle auszureiten. In all diesen Fällen bekommen die Reiter früher oder später den Satz zu hören „Der verarscht dich doch nur!“ Doch können Pferde das wirklich?
Dr. Dirk Lebelt, Fachtierarzt für Verhaltenskunde in der Pferdeklinik Havelland geht ebenfalls nicht so weit, dieses Verhalten als „Schauspielern“ zu bezeichnen. „Das hieße, man überlegt sich bewusst, in andere Rollen zu schlüpfen – ‚Ich spiele jetzt, dass ich krank bin’ – so weit kann ein Pferd nicht denken“, sagt Dr. Lebelt. Diejenigen Verhaltensweisen, die an Schauspielen erinnern, würden durch positiven Verstärkungen hervorgerufen. Also durch eine bewusste oder unbewusste Belohnung. Das so konditionierte Verhalten, setzt sich dann im Pferd fest. Am häufigsten sei eine unbewusste Konditionierung durch den Reiter.
Pferde „veräppeln“ sich auch gegenseitig
Zur Beruhigung für all diejenigen, die sich jetzt schon Vorwürfe machen: Pferde veräppeln nicht nur rangniedere Menschen. Der Hang zum Simulieren scheint ihnen auch in freier Wildbahn und gegenüber ranghohen Artgenossen angeboren zu sein: Dr. Zeeb bringt als Beispiel die Unterlegenheitsgeste des nicht erwachsenen Pferdes: Wird ein Fohlen von einem Artgenossen bedroht, so fängt es an zu kauen. Dadurch wird die Bedrohung beim Gegenüber blockiert. „In Dülmen sah ich immer wieder, wie eine ranghohe Stute diese Geste gegenüber einem Hengst machte. Sie suggerierte ihm damit ‚Ich bin ja nur ein Fohlen. Im Pferdekodex steht, du darfst mich nicht beißen!’“
Studien über simulierende und schauspielernde Pferde gibt es keine, weil sich diese Verhaltensweisen sich nicht provozieren lassen. Bleibt also nur, von Fall zu Fall genau hinzuschauen, um welche Art von Verhalten es sich handelt.
1. Möglichkeit: Konditioniertes Verhalten durch positive Verstärkung
Ein typischer Fall für konditioniertes Verhalten ist dieser: Ein Schulpferd möchte nicht in der Reitstunde mitlaufen und lässt sich deshalb vom Reitschüler nicht auftrensen. Dieser ist erstmal hilflos und geht wieder aus der Box hinaus. So lernt das Pferd: Aha, ich brauche mich nicht auftrensen lassen und habe dann meine Ruhe. Gleiches passiert bei einem Pferd, das herumhampelt und dafür mit einer Möhre belohnt wird. Und bei einem Tier, das sich nicht auf der Weide einfangen lässt und deshalb mit dem Hafereimer abgeholt wird. Selbst Lahmheiten können so entstehen: „Geht ein Pferd wirklich lahm, so wird es oft furchtbar gefüttert und betüddelt“, weiß Dr. Zeeb. „Danach sagt es sich: Wenn ich lahme, muss ich nichts schaffen.“
Leider, so der Verhaltensforscher, würden die wenigsten Pferde so korrekt geritten, dass sie Freude an der Arbeit haben. Sonst hätten sie solche Ausweichmanöver nicht nötig.
2. Möglichkeit: Schadenvermeidendes Verhalten
Simulieren findet nicht aus Angst statt. Wenn Angst im Spiel ist, handelt es sich um schadenvermeidendes Verhalten. Geht ein Pferd an derselben Stelle mehrmals durch, so will es nicht seinen Reiter ärgern. „Dabei handelt es sich um eine sehr elementare Reaktion des Fluchttieres Pferd“, sagt Dr. Zeeb.
Eine noch diffizilere Variante von schadenvermeidendem Verhalten ist es, wenn das Pferd nach einer schmerzhaften Erkrankung die Schmerzsymptome nicht ablegt. „Es ist möglich, dass das Pferd Angst vor dem Schmerz hat“, erklärt Dr. Lebelt. „Ein Pferd, das früher beispielsweise Probleme im Bereich des Nackenbandes hatte, hat Angst davor, in eine bestimmte Kopf-Hals-Haltung zu gehen, weil es mit dem Aufflackern des Schmerzes rechnet. Es wird deshalb auch dann noch mit dem Kopf schlagen, wenn das Problem längst nicht mehr besteht.“ Das ist der typische Fall einer negativen Verstärkung. Dasselbe Pferd könnte jedoch dieselbe Reaktion zeigen, wenn es überhaupt keine Angst vor dem Schmerz hat, sondern lediglich gelernt hat, dass es sich durch Kopfschlagen der Arbeit entziehen kann. „In solchen Fällen bleibt das Schmerz-Verhalten trotzdem bestehen, wenn das ursprünglich schmerzauslösende Element weg ist. Wegen der Belohnung.“, sagt Dr. Lebelt. Es ist sehr schwierig, solche Fälle auseinander zu halten.
3. Möglichkeit: Übertragung/Aufregung
Viele Reaktionen des Pferdes sind einfach eine Antwort auf die Stimmung des Reiters. „Viele Pferde werden unsicher, wenn der Reiter schon genau weiß: ‚Oh Gott, an der Siloplane geht er nie vorbei!’“, sagt Dr. Lebelt. Studien aus den USA beweisen, dass in Gruppen aufgezogene Pferde weniger leicht im Gelände erschrecken als Boxenpferde. Sie sortieren schneller, was wirklich gefährlich ist. „Boxenpferde brauchen mehr Bestätigung durch einen ranghohen Menschen“, so Dr. Lebelt.
Bekommen sie diese nicht, so kann das zu Angstreaktionen wie Scheuen und Durchgehen führen. Ist kein Angstauslösendes Element zur Stelle, kann ein unsicherer Reiter aber auch das unter 1) erwähnte konditionierte Verhalten auslösen. Dann entsteht der berühmte Fall des Reitschulpferdes, das nicht in die Ecken geht: Kaum sitzt der Reitlehrer drauf, geht es doch hinein. „Pferde wissen sehr genau zu unterscheiden, wann es sich lohnt, etwas zu tun“, sagt Dr. Zeeb. „Oder wenn Aushilfskräfte longieren: Da kommt das Pferd ständig zum Betteln, stellt sich quer, läuft Elipsen. Es simuliert Nicht-Können. Wenn nun aber der Chef kommt, braucht er nur seine Stimme zu erheben und alles klappt.“
Auch auf Turnier zeigt die Übertragung vom Reiter zum Pferd ihre Auswirkungen. Angst vor einem Sprung und Unsicherheit im Viereck breiten sich in Sekundenbruchteile auch auf die Pferde aus, die selbst das minimalste Muskelzittern des Reiters über die Zügel erkennen. „Pferde können auch von sich aus aufgeregt sein“, sagt Dr. Pollmann. „Sogar bei alten Turnier-Routiniers kommen immer neue, potentiell gefährliche Sachen ins Spiel. Manche kriegen schon eine Kolik, wenn sie nur sehen, wie der Hänger hergerichtet wird. Es gibt nichts, was es nicht gibt.“
Dr. Lebelt vergleicht das mit dem Speichelfluss der Pawlowschen Hunde: Sobald im Vorfeld gewisse Zeichen gesetzt werden (Mähne einflechten, Hänger herrichten) so wissen Pferde, dass bestimmte stressige Situationen folgen werden (Turnier, Stallzelt, Hängerfahrt). Dadurch entstehen unwillkürliche körperliche Reaktionen.
4. Möglichkeit: Gesundheitliche Probleme
„Sobald jemand zum Probereiten kam, lahmte er“. Diese Geschichte kursiert in verschiedenen Varianten über zahlreiche Pferde, die verkauft werden sollten. Dr. Zeeb ist sich sicher, dass es sich dabei um ein Märchen handelt: „Das Pferd müsste dann ja wissen, dass es verkauft wird und das weiß es ganz sicher nicht. Wie sollte denn das gehen?“
Auch Dr. Lebelt und Dr. Pollmann halten diese Variante für unwahrscheinlich. „In der Regel stecken manifeste gesundheitliche Probleme hinter so etwas, die nur bei demjenigen auftreten, der das Pferd Probe reitet“, sagt Dr. Lebelt. So reite immerhin der eine Mensch aggressiver oder schonender als der andere. „Auch Stimmungsübertragung und Aufregung halte ich für mögliche Auslöser für eine solche Reaktion – wenn zum Beispiel der Besitzer das Pferd eigentlich gar nicht verkaufen will.“
Wie intensiv Pferde die Gefühle ihrer Besitzer lesen, sollte man nicht unterschätzen. Ende des 19. Jahrhunderts versetzte der „Kluge Hans“ die Welt in Aufruhr, weil er angeblich bruchrechnen, Bilder erkennen, die Uhrzeit lesen und Leute zählen konnte. Selbst sein Besitzer glaubte daran. Die errechnete Zahl gab der Kluge Hans durch Hufescharren bekannt. In Wahrheit las der Hengst nur derart genau die Anspannung vom Körper seines Gegenübers ab, dass er genau in dem Moment aufhörte zu scharren, wenn die erwünschte Zahl erreicht war.
Ein Fall für den Tierarzt sind auch phlegmatische Pferde und Ponys, die mit ihren meist sehr jungen Reitern stur geradeaus Schritt laufen, obwohl die Kinder mit vollem Körpereinsatz antraben wollen. „In der Regel gehen Pferde gern unter Kindern, weil sie nicht so stark gefordert werden wie bei einem Erwachsenen“, sagt Dr. Zeeb. Deshalb sollte man bei sehr phlegmatischen Pferden nachsehen, ob klinisch etwas nicht in Ordnung ist. Oft sieht man schon am Blick: Starrt das Tier trübe vor sich hin oder blinzelt es schelmisch unter seiner Strubbelmähne hervor? Dr. Pollmann weißt darauf hin, dass die Ursachen von Schmerzen oft lange und vergeblich gesucht werden. Man müsse sehr vieles Abchecken, vom schlecht sitzenden Sattel bis zum Gelenkchip, bis man eine sichere Diagnose stellen könne.
Pferde, bei denen der Verdacht auf ein schadenvermeidendes oder erlerntes Verhalten besteht, setzt man oft eine Woche lang unter Scherzmittel. Laufen Sie dann gut, wird es sich wahrscheinlich um ein körperliches Problem handeln. Laufen sie auch mit Schmerzmitteln schlecht, so liegt es nahe, dass das Pferd simuliert oder schadenvermeidendes Verhalten zeigt.
Diese Fragen sollten Sie sich stellen, wenn Sie die Ursache für ein bestimmtes Verhalten Ihres Pferdes herausfinden möchten:
- Liegt es an der Führungsqualität des Reiters/Besitzers?
- Ist das Pferd überfordert?
- Hat es die Aufgabe nicht verstanden?
- Ist die Hilfengebung falsch?
Autorin: Mit freundlicher Genehmigung von Regina Käsmayr
Quelle: http://www.barnboox.de/wissensdatenbank/fachartikel/pferde-intelligenz-k%C3%B6nnen-pferde-ihren-reiter-austricksen